21
Kjell drückte sein Gesicht gegen das Schaufenster des Antiquariats. Trotz der Finsternis im Inneren konnte er erkennen, dass Ida am Vormittag hier gewesen sein musste. Denn das neue Sofa und die Sessel hatten sich in das Mobiliar eingefügt, als hätten sie seit Strindbergs Zeiten hier gestanden. Während er vergeblich an der Tür rüttelte, entdeckte er unter dem Dutzend Zettel einen, der eine Nachricht für ihn enthielt: ‚Sind schon zu Jenna gegangen, damit Linda ihre Aussage machen kann.‘
Normalerweise hasste er es, wenn sein Textverarbeitungsprogramm und seine Familie eigene Ideen verwirklichten, die seine wohlüberlegten Anweisungen durchkreuzten. Zum Glück hatte er eine Freundin gefunden, die ihn vor allem an Intelligenz übertraf, deswegen war auch diese Änderung in der Tagesplanung alles andere als schlecht. Man konnte sogar von einer Verbesserung sprechen.
Kjell sah auf die Uhr. Um zwei hatte er sich mit Jenna Evaldsson von der Technischen zu einer gemeinsamen Tatortbesichtigung verabredet und war schon eine halbe Stunde zu spät. Er überlegte, ob er zu seinem Auto zurückkehren sollte, das er um die Ecke an der Norra Latin geparkt hatte, aber die Bibliothek lag von hier nur dreihundert Schritte entfernt.
Er eilte auf der Drottninggatan nach Norden. Hinter Idas Laden stieg die Straße auf einmal stark an. Grund dafür war der Brunkeberg, ein die Innenstadt vom Fjord im Süden bis zur Nordgrenze durchziehender Felskamm. Seit Alfred Nobel die hinderlichsten Erhebungen flachgesprengt hatte und die Bebauung den Brunkeberg überall zudeckte, blieb seine Existenz den Bewohnern dieser Stadt nur durch die Hebungen und Senkungen der Straßen von Norrmalm im Gedächtnis. Und durch seinen Gipfel, auf den Kjell nun wegen der warmen Mittagssonne immer heftiger schnaufend hinauflief. Der Observatoriumshügel hinter der Bibliothek war nämlich nichts anderes als die höchste Stelle des Brunkebergmassivs, auch wenn er vom Sveavägen aus nur wie ein fünfzig Meter hoher Fels aussah, der vom Himmel gefallen war. So flach, wie das Plateau oben war, traute Kjell dem manischen Nobel zu, auch hier alles eingeebnet zu haben, was ihm nicht gepasst hatte, aber genau wusste er es nicht. Einmal hatte Nobel schließlich auch halb Södermalm in die Luft gesprengt, aus Versehen, wie es hieß.
Zum Glück war der Anstieg hinauf zum alten Observatorium hier auf der Ostseite kurz und nicht übermäßig steil. Oben umrundete Kjell das Gebäude und folgte dem Kiesweg, der an der Westkante entlangführte. Hinter dem Geländer fiel der Hang fünfzig Meter ab, so jäh, dass überall zwischen den Büschen erodierte Stellen klafften.
Auf den Bänken vor dem Geländer saßen Pärchen und Familien, doch Jenna, Ida und Linda entdeckte er nicht unter ihnen. Er lief weiter bis zu der Ecke, wo West- und Nordseite aufeinander trafen. Dort gab es eine kleine Terrasse mit einer Statue. Die drei Frauen saßen auf der niedrigen Befestigungsmauer und blickten hinab in die Tiefe. Das Dach der zylinderförmigen Rotunde der Bibliothek schien zum Greifen nah.
„Ach, hier seid ihr!“, rief er von hinten.
Jenna Evaldsson hatte ihr Zeichenbrett auf dem Schoß liegen und nickte. „Eure neue Mitarbeiterin hat gestern Abend ihre Fotos von hier gemacht. Ich brauche denselben Blickwinkel.“
Jenna Evaldsson kümmerte sich bei der Tatorttechnik darum, aus all den einzelnen technischen Spuren und Zeugenaussagen ein Spurenbild zu zeichnen. Mit liebevoller Sorgfalt erstellte sie eine immer gleiche Serie aus Zeichnungen. Die erste davon fror die Auffindesituation in eine unbewegliche Skizze ein. Zu diesem Bild musste Kjell bei seiner Ermittlung mit seinen Gedanken immer wieder zurückkehren. Das zweite Bild war eine grafische Inventarliste alle Spuren am Tatort. Erst in der dritten Skizze spielten Zeit und Logik eine Rolle. Mit Kreuzen und Pfeilen vermerkte Jenna darauf, in welcher Reihenfolge die Spuren entstanden sein konnten und welche Abläufe aufgrund der Spuren ausgeschlossen waren. So wurde sie zur Ombudsfrau zwischen der Tatorttechnik und den Ermittlern. Erst Kjell und seine Gruppe brachten Leben in die dritte Zeichnung, fügten die nichttechnischen Spuren ein und ersannen dann ihre erste Arbeitstheorie.
Kjell kletterte zu den anderen auf die Mauer und warf einen Blick auf die Skizze.
Jenna streckte Kjell einen Haufen Abzüge hin. „Die Fotos sind ganz gelungen. Ohne sie hätte ich es schwer gehabt, die Skizze zu machen. Der Regen war so heftig, dass er alle Markierungen auf der Straße weggespült hat.“
Kjell blätterte die Fotos durch. Offenkundig hatte er Theresas Wahnsinn noch unterschätzt. Während um sie herum schon die Blitze einschlugen, hatte sie hier oben auf der Mauer ausgeharrt und sich beim Fotografieren an der Bronzestatue festgehalten.
„Das war ja ein ungeheures Gewitter“, sagte Kjell. „Barbro hat erzählt, dass im 7-Eleven sogar das Licht ausgefallen ist.“
„Es hat aber nur Einschläge in den Hochhäusern vorne am Odenplan gegeben“, erwiderte Jenna. „Hier oben zum Glück nicht.“
„Ich habe beim Herkommen vorn am Observatorium ein Schild gesehen“, sagte Linda, die bisher geschwiegen hatte und eine dunkle Sonnenbrille trug. „Das Museum darin ist wegen Stromausfalls geschlossen.“
„Das hat aber nichts mit dem Gewitter zu tun“, sagte Jenna. „Das Observatorium hängt am Trafohäuschen der U-Bahn, weil es hier oben das einzige Gebäude ist. Die mussten den Juni über schließen, weil das Trafohäuschen wegen des Umbaus der Bibliothek verlegt werden muss.“
„Hast Du Jenna alles erzählt?“, fragte Kjell seine Tochter.
Sie nickte nur. Er hatte sie früh am Morgen aus dem Bett zerren wollen, aber Linda war jammernd auf ihre Matratze zurückgesunken. Für einen Hexenschuss gab es zwei naheliegende Ursachen, deswegen hatten Kjell und Ida am Küchentisch um einen Hunderter gewettet. Kjell hatte auf wildes Tanzen gesetzt, Ida notgedrungen auf etwas noch Sinnlicheres, auch wenn bei Linda dafür weit und breit keine Gelegenheit zu sehen war. Leider schwieg sie seit dem Aufstehen und lief seither steif wie eine Fahnenstange durch die Gegend.
Jenna las Lindas Aussage vor. Sie hatte nur eines sicher erkannt: In dem Wagen waren zwei Personen gesessen.
„Niemand achtet beim Autofahren darauf, welche Marke ein Auto hat, das einem die Vorfahrt nimmt, Papa.“
„Von Vorfahrt kann überhaupt keine Rede sein“, erwiderte Lindas Vater. „Du hättest bremsen müssen.“
Jenna Evaldsson wirkte zerbrechlich mit ihrem lichten Haar und ihrer hellen Haut, die immer ein wenig gerötet war. Der drohenden Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter kam sie durch die Bemerkung zuvor, dass Lindas Angaben dazu gereicht hätten, jeden Zweifel zu eliminieren: Der Wagen in der Olof Palmes Gatan war der Unfallwagen vom Sveavägen.
Jenna streckte den Arm aus und deutete nach links zur Bibliothek. „Wir haben zwei Zeugen, die in oder vor den beiden Schnellrestaurants gesessen haben, einer drinnen vor der Scheibe. Es ist ziemlich sicher, dass das Mädchen dort vorbeigekommen ist, und zwar kurz vor dem Unfall. Die Leute am Becken haben sie jedoch nicht gesehen, also muss sie vorn an der Straße auf dem Gehsteig gelaufen sein.“
Wenn Jenna Evaldsson in einer ihrer Skizzen steckte, hörte der Rest der Welt für sie auf zu existieren. Sie schwenkte ihren Arm nach rechts. „Aus der U-Bahn-Station kann sie nicht gekommen sein. Da waren zu dieser Zeit schon Polizisten auf dem Bahnsteig. Aber in der Handelshochschule war gestern Abend ein Fest, unten im Keller.“
„Das ist sogar bestätigt“, sagte Kjell. „Theresa Julander konnte die Freundin von Lovisa ausfindig machen. Sie waren gestern Abend gemeinsam auf diesem Fest, und Lovisa war auf einmal verschwunden. Ihre Zeitangabe stimmt. Das war eine Viertelstunde vor dem Unfall.“
„Aha.“ Jenna musste diese Bestätigung sofort in ihrer Skizze vermerken.
„Von der Frau gibt es jedoch nichts“, fuhr Jenna fort. „Bevor sie den Laden betrat, hat sie kein Mensch gesehen. Dasselbe gilt für die beiden Männer, die nach dem Unfall bei der Frau gewesen sein sollen.“
„Wenn wir ausschließen können, dass sie vom Park kam, und wenn sie auch am Sveavägen und in der Odengatan niemand gesehen hat, dann bleibt nur ein Schluss: Sie muss die Treppe der Bibliothek genommen haben. Also war sie auf der Veranstaltung.“
Jenna kniff ihr rechtes Auge zusammen. „Das beruht ausschließlich auf Zeugenaussagen.“
„Aber sie war nicht gerade unauffällig. Wenn sie an den Leuten vorbeigekommen wäre, dann hätten sich die Zeugen an sie erinnert. Jedenfalls hätten sie es nicht so entschieden verneint. Ich hätte größere Zweifel, wenn alle geglaubt hätten, sie gesehen zu haben.“
„Hat sie denn in der Bibliothek niemand gesehen?“, fragte Ida.
„Es war dunkel im Lesesaal“, erwiderte Jenna und wandte sich an Kjell. „Du hast recht. Sie war sehr wahrscheinlich im Lesesaal.“
„Gibt es keine technischen Spuren?“, fragte Kjell.
Jenna schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Das Gewitter hat alles zunichte gemacht.“
Eine Weile saßen sie schweigend da.
Dann meldete sich Ida zu Wort. „Könnte es sein, dass der Fahrer des Wagens das Gewitter einkalkuliert hat?“
Kjell und Jenna ließen die Frage auf sich wirken, bevor Kjell zu einer Antwort anhob. „Bei einem Verbrechen das Wetter einzuplanen, ist ganz schön riskant.“
Dann war es wieder still. Alle blickten hinab in den Park. Auf der Wiese lagen Menschen in der Sonne und im Wasserbecken stapften Kinder mit hochgekrempelten Hosenbeinen umher.
Ida legte nach. „Findet ihr es denn nicht erstaunlich, dass die Frau allein am Rand der Fahrbahn stand? Das Verhalten des Mädchens war nicht vorauszusehen. Der ganze Vorfall war nicht vorherzusehen.“
Da hatte Ida recht. Alles war ziemlich reibungslos abgelaufen. Vieles am Ablauf war noch schwerer zu planen gewesen als das Wetter.
„Ja, ich finde es auch erstaunlich“, sagte Kjell.
„Erstaunlich, wenn man nur diesen einen Mordversuch kennt“, sagte Ida. „Aber vielleicht versucht der Fahrer des Wagens schon seit Jahren, die Frau umzubringen, und hatte erst jetzt Erfolg, weil die Frau wie Inspektor Clouseau alle bisherigen Versuche durch dumme Zufälle überlebt hat.“
Kjell und Jenna lachten.
„Da können wir nur mutmaßen“, sagte er schließlich. „Ebenso unklar ist die Frage, ob der Anschlag tatsächlich geplant war oder sich nur günstig ergeben hat.“
„Etwas spricht dagegen“, meinte Jenna. „Die reibungslose Flucht.“